16 Positionen des Kulturrats NRW zur nordrhein-westfälischen Kulturpolitik 2018-2022

Der Vorstand des Kulturrats NRW hat am 16. Mai 2018 Positionen zur Kultur und Kulturpolitik in Nordrhein-Westfalen beschlossen, die Grundlage der künftigen Arbeit bilden sollen:

1. Die qualitätsvolle Dichte der Szenen von Kunst und Kultur in Nordrhein-Westfalen steigert sich auch 2018 weiter und wird weltweit beachtet. Gleichwohl ist sie von einer enormen Zahl prekärer Einkommensverhältnisse von Künstlerinnen, Künstlern und Kultur­schaffenden geprägt. Auch die kulturelle Infrastruktur braucht Unterstützung, sowohl in urbanen wie in ländlichen Gebieten. Die Förderung der freien Kunstszene aller Sparten muss im Bereich der Exzellenz ebenso intensiviert werden wie in der Breitenkultur.

2. Die Stützung der freien Szene von Künstlerinnen und Künstlern aller Sparten muss direkt mit einem großen Einsatz von Landesmitteln und einem Förderinstrumentarium von Wirkungsgrad angegangen werden. Insbesondere gilt es die Freien Szenen in ihrer Querschnittsaufgabe für die Entwicklung der Künste, der Kulturellen Bildung, der Kultur- und Kreativwirtschaft, des gesellschaftlichen Wandels durch nachhaltig wirkende Förderformate zu stützen. Die Exzellenz benötigt klassische Fördermaßnahmen wie Stipendien und Preise. Es können jedoch nicht alle Künstlerinnen und Künstler als Individuen gefördert werden, auch aus Sicht des Kulturrats würde dies den Landeshaushalt überfordern. Notwendig ist indes eine möglichst breite finanzielle Förderung von künstlerischen Arbeits- und Produktionsprozessen sowie von vernetztem Schaffen, zumal von solchem, das interdisziplinäre Verbindung schafft, unter­schiedliche Produktionsmethoden verbindet und erprobt (etwa analoge und digitale) und Impulse in die Szenen lenkt. Dabei sollten die Grenzen zur Kulturwirtschaft durchlässig sein. Die Förderung der Exzellenz durch Stipendien bzw. Preise und die Förderung von innovativen Produktionen muss effizient und unmittelbar betrieben werden. Auch Auftrittsförderungen sowie Werk- und Kompositionsaufträge sind bewährte Förderinstrumente. Es ist nicht not­wendig, ein halbes Dutzend verschachtelte Verfahren mit einem vollem Dutzend von Gremien und Einrichtungen in Gang zu setzen, durch die ein Teil der Mittel nicht zum eigentlich Förderzweck gelangt. Für den Bereich der bildenden Kunst ist das „Kunst und Bau Programm“ des Landes von Bedeutung. Deshalb sollte dieses Programm wieder gesetzlich für alle Baumaßnahmen des Landes prozentual festgeschrieben werden. Die Mittel sollten den Baukosten zugerechnet und nicht aus dem Kulturetat bestritten werden. Der gesetzliche Rahmen und die konkrete Umsetzung muss mit einer Expertengruppe unter Beteiligung von Künstlerinnen und Künstlern erarbeitet werden um eine aktuelle Wirkung entfalten zu können.

3. Im ländlichen Raum gehören Zusammenschlüsse von Kulturschaffenden vielerorts zu den letzten Gliederungen, die die Gesellschaft zusammenhalten. Sie benötigen die Unter­stützung der Landesförderung, eine Wertschätzung des dortigen bürgerschaftlichen Enga­gements und eine finanzielle Stärkung aller Einrichtungen, die zu ihrer Infrastruktur zu zählen sind. Besondere Chancen bieten Bibliotheken und andere Kultureinrichtungen des ländlichen Raums als Dritte Orte, die kulturelle Foren des Miteinanders für die Gesellschaft bereitstellen.

4. Soziokulturelle Akteure und Zentren sind in Zeiten gesellschaftlich zentrifugaler Kräfte wichtiger denn je. Sie müssen gestärkt werden, um kulturelle Ansätze für die Stadtgesellschaft von morgen zu entwickeln, die auch heterogene Bevölkerungsstrukturen in den Stadtteilen einbeziehen, und um ihre originären Kunstformen weiterzutragen.

5. Augenmerk muss ebenso den Akteuren und Einrichtungen der Integration durch Kunst und Kultur gelten. Die verstärkte Einwanderung seit 2015 wird eine gesellschaft­liche Herausforderung bleiben, die vor allem aus der Bürgerschaft heraus angegangen wird. Die Initiativen, Künstlergruppen, Vereine und Zentren des Kulturlebens benötigen bei der Integration durch Kunst und Kultur Landesunterstützung, um nachhaltig wirken zu können. Die Integrationsherausforderung wird sich verstärken, wenn die zweite Generation nach der Einwanderung von 2015-2017 in Nordrhein-Westfalen aufwachsen wird. Integration durch Kunst und Kultur muss zur selbstverständlichen Querschnittsaufgabe im geförderten Kultur­leben werden: Hintergrund ist nicht nur die verstärkte Einwanderung seit 2015, sondern auch die in Bezug auf Herkunft, Bildungschancen, Wertorientierung etc. heterogene Zusammensetzung der Bevölkerung in NRW. Kunst und Kultur bieten die Möglichkeit für jeden einzelnen, sich lokal und in der Gesellschaft zu verorten und mit dieser Vernetzung zu identifizieren. Begegnung, Auseinandersetzung und Teilhabe am kulturellen und sozialen Leben sind die besten Voraussetzungen für erfolgreiche Integration und eine gemeinsam gestaltete Gesellschaft. Die Institutionen, Initiativen, Künstlergruppen, Vereine und Zentren des Kulturlebens, die hierfür Räume und Anlässe schaffen, benötigen Landesunterstützung, um nachhaltig wirken zu können. Interkulturelle oder vielfaltssensible Kulturarbeit muss zur selbstverständlichen Querschnittsaufgabe im geförderten Kulturleben werden.

6.  Kulturelle Bildung bietet den Schlüssel zum Kulturleben von morgen. Um auf diesem Gebiet Qualitäten und Kontinuität weiter zu entwickeln sind aus der Sicht des Kulturrats NRW vor allem eine ganzheitliche Stärkung der Kulturellen Bildung in formalen, non-formalen und informellen Kontexten entscheidend. Kulturelle Bildung ist eine Auf­gabe, die von der Kinder­tagesstätte über die Grund- und weiterführenden Schulen bis in die Erwachsenenbildung reicht. Künstler, Kulturschaffende, Kindertagesstätten, Jugendarbeit und Schulen müs­sen die eingegangenen Allianzen stärken und noch erheblich ausbauen. Die Landesregierung muss ihre Programme zur kulturellen Bildung intensivieren, darunter das Programm “Jedem Kind Instrumente, Tanzen und Singen” landesweit zur Vierjährigkeit aus­dehnen und dessen Übergang in die weiterführenden Schulen systematisch gestalten. Eine Erweiterung des Programms um künstlerische Formate, die der Sprachförderung dienen, wäre wünschenswert. Beim Programm „Kultur und Schule“ muss die Honorierung der beteiligten Künstlerinnen und Künstler erheblich verbessert werden. Außerschulische Bildungsangebote im Bereich der kulturellen Bildung sind unerlässlich, auch um durchgängige kulturelle Bildungsbiografien zu ermöglichen. Zur Stärkung von Kooperationen braucht es finanzierte gemeinsame Regiezeiten. Der Alltag in Kindertagesstätten muss vor dem Hintergrund von Migration und verstärkt heterogenen Bildungsherkünften kulturell entwickelt werden. Das Zusammenwirken von Kindertagesstätten und Grundschulen, von Grundschulen und weiterführenden Schulen, von schulischen und außerschulischen Angeboten sowie von Hochschulausbildung und Praxis muss in einen ganzheitlichen Blick genommen werden. Hierzu bedarf es eines „Landesweiten Gesamtkonzept Kulturelle Bildung“ analog zu den kommunalen Gesamtkonzepten Kulturelle Bildung, die vielerorts in NRW entstanden sind. Mit der Entwicklung eines solchen ressortübergreifenden Konzepts unter Beteiligung der verschiedenen zuständigen Ministerien würde NRW Pionierarbeit leisten. Ein Runder Tisch zur kulturellen Bildung unter Beteiligung der zivilgesellschaftlichen Akteure des Kulturlebens als natürliche Verbündete der Landesregierung sollte weitere Ansätze zur Stärkung der Kulturellen Bildung aus einer ganzheitlichen Perspektive entwickeln.

7. In allen Schulformen fehlen Lehrkräfte der musischen Fächer. Die Fortbildung für Lehrer, die fachfremd für musische Fächer eingesetzt werden, bietet derzeit kein schlüssiges System. Obwohl in den Schulkollegien erheblicher Fortbildungsbedarf besteht – gerade in Bezug auf die musischen Fächer -, erfolgt die Abfrage der Bedarfe durch die Bezirksregierung in einer Weise, die eine Nachfrage kaum sichtbar macht. Das regelmäßige Ausloten des Fortbildungsbedarfs sollte von den Bezirksregierungen ins Ministerium verlagert werden, damit die Angebote dort koordiniert und an subsidiäre Einrichtungen delegiert werden können. Diese Einrichtungen können sich der Kompetenz des Bundesverbands Musikunterricht und anderer einschlägiger Pädagogenverbände versichern und fachgerechte Fortbildungs­angebote machen.

8. Die Landesregierung wird in diesem Zusammenhang ihre verbündeten Einrichtungen, Verbände und Zusammenschlüsse von Kulturschaffenden auf dem Weg zu einer umfassenden kulturellen Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger auch legislativ stärken müssen. Seit 2015 bietet das Kulturfördergesetz eine Grundlage, um als Rahmengesetz ein Biblio­theks­gesetz, ein Musikschulgesetz und andere Spartengesetze aufzunehmen. In der angebrochenen Legislaturperiode sollten davon mindestens zwei verabschiedet werden.

9. Wichtige Instrumente des Kulturfördergesetzes sind die Erarbeitung eines Kulturförder­plans unter Einbeziehung der Akteure von Kunst und Kultur sowie die Erarbeitung eines Landeskulturberichts und Kulturförderberichts. Diese Instrumente müssen weiterhin Anker der Kulturförderung bleiben. Der Kulturrat NRW geht davon aus, dass die Landesregierung die vom Kulturfördergesetz vorgesehenen Beteiligungsoptionen bei der Aufstellung des Kultur­förderplanes offensiv nutzt und dass er selbst daran beteiligt wird. Seine Sektionen und Mitgliedsverbände müssen darin vom Land unterstützt werden sich einzubringen. Dadurch kann den Künstlern und Künstlerinnen eine Stimme gegeben werden. Die Studien, die im Zusam­menhang mit dem ersten Landeskulturbericht erstellt wurden, sollten im Sinne einer konzept­basierten Kulturpolitik fortgeführt werden.

10. Die Kulturwirtschaft muss zum Handlungsfeld von Kulturpolitik werden. Neben die Major-Unternehmen, die den Markt diktierten, hat sich eine lebendige und innovative kulturwirtschaftliche Branche von kleinen Unternehmen herausgebildet, deren Umsatz insgesamt größer ist als der eines der Majors und die zum Überlebensfeld von Künstlern und Künstlerinnen worden sind. Von Festivals, Produktionsfirmen, Labels und anderen Unter­neh­men gehen Impulse aus, die für das Geschehen von Kunst und Kultur in NRW prägend sind. Jazzspielstätten, Pop-Clubs, Poetry-Bühnen und andere kulturwirtschaftliche Stätten sind für die Präsentation und Weiterentwicklung kultureller Kreativität überlebens­notwendig und brauchen kulturfördernde Unterstützung. Kulturpolitik muss Hand und Hand mit Wirtschafts­politik die Ansätze innovativer kulturwirtschaftlicher Unternehmen stärken und ausbauen.

11. Digitalisierung ist hierbei ein Schlüsselbegriff. Sie bedeutet nicht nur Sicherung des kulturellen Erbes und datenintensive Verzeichnungs- und Registermöglichkeit, sie wird zur Ressource künstlerischen und kulturpädagogischen Schaffens. Die Landespolitik muss deshalb Zugangsmöglichkeiten für Künstlerinnen und Künstlern zu technischen Ressourcen schaffen und ihre Qualifizierung fördern. Dies gilt in besonderer Weise auch für eine zeitgemäße Kulturelle Bildung, die den Anspruch hat, an die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen anzuknüpfen und den selbstbestimmten und gestalterischen Umgang mit Medien zu fördern. Die Landespolitik muss einen ordnungspolitischen Rahmen so setzen, dass er es ermöglicht, dass Künstler und Kulturschaffende von ihrer geistigen Leistung leben können. Die Landesregierung muss in diesem auch auf Bundesregierung und Europäische Kommission einwirken. Die Künstler und Kulturschaffenden müssen dadurch Akteure auf Augenhöhe mit den anderen Akteuren in der Verwertungskette des Marktes werden. Die Landesregierung muss die digitale Teilhabe der nordrhein-westfälischen Gesellschaft am Kulturleben ermöglichen. Diese Transformation der Rezeption und der Teilhabe an Kunst und Kultur ist eine herausragende Herausforderung für die kommenden Jahre.

12. Der bei weitem überwiegende Teil öffentlich geförderten Kulturlebens in NRW wird von Kommunen finanziert. Es war deshalb naheliegend, dass die Landesregierung die ersten kulturfördernden Maßnahmen der Legislaturperiode auf die Stärkung kommunaler Ein­richtungen, insbesondere von Theatern und Orchestern, richtet. Neben den Theatern und Orchestern, oft auch an deren Stelle, sichern weitere Kulturinstitutionen die kulturelle Infrastruktur in den Kommunen und Kreisen. Auch für deren Sicherung und Ausbau muss das Land Verantwortung übernehmen. Die Landesregierung wird dabei absichern müssen, dass den kommunalen Einrichtungen gewonnener Spielraum nicht durch Einsparmaßnahmen der Kämmerer an anderer Stelle wieder verloren geht. Bei der Unter­stützung muss den freien, von Kommunen nur projektweise oder nicht geförderten Einrichtungen die gleiche Wertschätzung gelten wie den kommunal getragenen.

13. Kulturleben gehört ins Herz einer Gemeinde. Doch Kultureinrichtungen in den Städten geraten immer häufiger mit Interessen des Wohnens, der Gesundheit und der Umwelt in Konflikt. Die Landesregierung muss hier eine moderierende Position einnehmen und verhin­dern, dass Kultureinrichtungen an den Stadtrand abgeschoben werden.

14. Der bei weitem überwiegende Teil des kulturellen Geschehens im Lande hängt von Zuwendungen ab. Das Zuwendungsrecht wird der aktuellen Situation nicht gerecht, muss dringend entschlackt und auf die Förderung von Vorhaben mittelfristiger Länge ausgerichtet werden. Die zum 1.1.2015 erlassene Kulturförderrichtlinie hat die Festbetragsfinanzierung zur Regel anstelle von Fehlbedarfs- und Anteilsfinanzierung erklärt. In der Praxis wird dies noch zu wenig umgesetzt.

15. Die Landesregierung muss Kulturpolitik nicht nur als finanzielle Förderpolitik, sondern auch als politische Lobbyarbeit bei Bund und Europäischer Union begreifen. Damit muss sie sicherstellen, dass die Künstlerinnen und Künstler in NRW Inhalte schaffen, von deren Verwertung sie selbst und nicht nur andere Unternehmen leben können. Und mit einer solchen Lobbyarbeit muss die Landesregierung auch die Kommunen in ihrer Rolle als hauptsächliche Träger kulturellen Geschehens schützen.

16. Der Kulturrat NRW regt an, noch in der laufenden Legislaturperiode einen kulturpoliti­schen Zukunftsdiskurs (ähnlich der geplanten „Agenda für Kultur und Zukunft“ auf Bunde­sebene) zu initiieren, an dem die zivilgesellschaftlichen Akteure im Kulturbereich beteiligt werden.

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